Bereits als Kind habe ich mit Rückzug auf schlechte Stimmungen, große Lärmbelästigungen oder viele Menschen reagiert. Die einzige Reaktion, die ich bekam, waren Sätze wie "Stell dich nicht so an." oder "Du bist aber auch eine Mimose." Lange dachte ich, das gehöre zu meinen Erfahrungen mit einem unguten Elternhaus. Bis ich einen Vortrag zum Thema Hochsensibilität hörte.
Elaine Aron, eine amerikanische Psychologin, stellte in einer Umfrage fest, dass es das Phänomen der Hochsensibilität gibt. Sie arbeitet ab 1991 an diesem Thema. Als die Ärzte sie nach einer Operation, die sie sehr aufwühlte, in eine Therapie schickten, wurden keine Anzeichen einer psychischen Erkrankung gefunden. Die Ärzte sagten zu ihr, sie sei einfach sensibler als Andere. Das brachte sie wieder zurück zu ihrer Umfrage zum Thema Hochsensibilität. 1996 veröffentlichte sie ihr Buch "Sind sie hochsensibel? - Wie sie ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen".
Hochsensibilität ist nach Elaine Aron eine genetische vererbbare Charaktereigenschaft. Nach ihrer umfangreichen Umfrage schätzt sie, dass ungefähr 15-20 % aller Menschen hochsensibel sind.
2019 zur Woche der seelischen Gesundheit war ich auf einer Lesung von Freunden in der Hamburger Bibliothek in Barmbek. Es lasen nicht nur zwei Freunde von mir aus ihrer Geschichte - einer von seiner Depression, die andere von ihrer Sicht als Angehörige - sondern auch eine junge Frau. Sie brichtete von ihrem Leben mit Hochsensibilität. So konzentriert war ich noch nie einer Lesung gefolgt. Was die Frau da vorlas, erkannte ich bei mir wieder, Auch im anschließenden Gespräch mit ihr wurde mir klar, dass dies eine Erklärung für vieles ist, was ich bislang nicht erklären konnte.
- In großen Menschenmengen fühle ich mich unbehaglich. Nicht ängstlich aber unwohl. Egal ob Weihnachtsmarkt, Schlußverkauf, Adventsshopping ode einfach volle Kaufhäuser und Straßen an einem normalen Wochenende - die vielen Menschen stressen mich mehr als Menschen, die nicht hochsensibel sind.
- ständiger Lärm an einer der Einfallstraßen einer Stadt regt mich auf. Irgendwann im Verlauf von mehreren Minuten sirren meine Ohren und ich bekomme Kopfschmerzen. Das geschieht auch bei Laubbläsern, die direkt an meinem Zimmerfenster betrieben werden.
- Wenn ich einen Raum betrete, kann ich die Athmosphäre in diesem Raum "erspüren". Sind sich die Menschen in den Raum bekannt? Mögen sie sich? Ist einer der Teilnehmenden mit seinen Gedanken beim Thema oder wo anders?
- als ich jünger war hatte ich ein sehr gutes Gehör. Für falsche Töne bei Musikstücken, aber auch für leise Geräusche. Ich sage manchmal: "ich höre das Gras wachsen".
- ich bin ein sehr einfühlsamer Mensch. Damit verbunden ist auch, dass ich auf Kritik sehr fein reagiere. Das kommt dann so rüber als ob ich mit Kritik nicht umgehen könnte.
- schöne Szenen in Büchern oder Filmen rühren mich zu Tränen. Brutale Szenen schrecken mich mehr zurück als Andere. Aus diesem Grund habe ich irgendwann aufgehört Krimis zu lesen.
Seitdem ich den Vortrag in der Bibliothek 2019 gehört habe, beschäftige ich mich eingehend mit der Thematik. Ich kann es mittlerweile annehmen, dass ich auf Lärm empfindlicher reagiere, dass ich große Menschenmengen nicht mag, usw. Ich habe meinen Umgang gefunden. Entweder meide ich solche Situationen, oder ich suche mir im Anschluß eine Möglichkeit der Erholung. Meist gehe ich im Anschluß spazieren und gehe ganz bewußt dort hin, wo ich weiß, das ich dort fast nur die Geräusche der Natur höre.
Große Menschenmengen kurz vor Weihnachten meide ich generell.